„Architekten und Planer spielen hier eine Schlüsselrolle“

Lösungsansätze zur Reduktion von CO2 am Bau

ATP Sustain ist eine Forschungs- und Sonderplanungsgesellschaft innerhalb von ATP Architekten Ingenieure, einem der größten integralen Planungsbüros Europas. Wir sprachen mit Michael Haugeneder, der gemeinsam mit Jens Glöggler die Geschicke von ATP Sustain leitet, über die Frage, wie sich das Planen und Bauen hin zum Thema Nachhaltigkeit wandeln muss.

tab: Herr Haugeneder, graue Energie, graue Emissionen… können Sie diese Begriffe für uns einordnen?

Michael Haugeneder: Unter dem Terminus „graue Energie” verstehen wir all jene Energie, die für die Herstellung von Materialien, den Transport, den Ein- und Ausbau, eine Second-Life-Nutzung oder den Abbruch und in weiterer Folge für das Deponieren und Verbrennen benötigt wird. Dem gegenüber steht die rote Energie, die klassische Betriebsenergie. Ein Beispiel verdeutlicht, wann von Energie und wann von Emission gesprochen wird: Wird bei einem Abbruch ein dieselbetriebenes Fahrzeug verwendet, ist eine bestimmte Energiemenge erforderlich und durch den Verbrennungsmotor, der diese zur Verfügung stellt, entstehen graue Emissionen. Kommt für den Prozess jedoch ein Elektrofahrzeug zum Einsatz, hat man zwar den gleichen Bedarf an grauer Energie, es entstehen dabei aber wesentlich weniger graue Emissionen, je nachdem, welcher Strom zum Laden des Fahrzeuges eingesetzt wird. Wir müssen also die Herstellungsprozesse von Materialien verändern, wenn wir das Thema materialgebundene Emissionen grundlegend anpacken wollen – und das sollten wir.

tab: Das heißt, die Lösung für diese Thematik liegt bei der Industrie?

Michael Haugeneder: Einerseits ja. Die chemisch-physikalischen Prozesse, z. B. in der Herstellung von Zement oder von Glas- bzw. Steinwolle, sind vorgegeben. Daher sind die einzelnen Phasen in der Materialherstellung zu betrachten. Es gilt also, den Produktionsprozess möglichst emissionsarm zu gestalten, weil energiefrei bzw. energiearm nicht geht. Gerade die Zementindustrie versucht bereits seit einigen Jahren den Einsatz von fossilen Energieträgern im Herstellungsprozess zu vermeiden und mit gutem Beispiel voranzugehen. Andererseits liegt die Verantwortung aber natürlich auch bei uns Planern. Wir entscheiden am Ende, welche Materialien und welcher Materialmix zum Einsatz kommen. In dieser Entscheidungsfindung wird künftig der CO2-Footprint der Hersteller noch gewichtiger sein.

tab: Welche Rolle spielen die grauen Emissionen im Bauwesen?

Michael Haugeneder: Sie machen den größten Teil der Emissionen in der Bauwirtschaft aus. Während auf der Seite der roten Betriebsenergie bereits seit 30 Jahren gespart wird und die fossilen Energieträger verdrängt werden – im Wohn- als auch im Industriebau – und bereits der zweite Schritt, nämlich jener der Elektrifizierung folgt, sind die grauen Emissionen noch kaum beforscht. Vor allem im Bereich der technischen Gebäudeausstattung fehlt es an grundlegenden Daten und Zahlen. Und obwohl der TGA nur in etwa vier Prozent der Gesamtmasse von eingesetzten Materialien eines Gebäudes zuordenbar sind, sind diese doch für bis zu 40 % der gesamten grauen Emissionen eines Gebäudes verantwortlich. Dies liegt einerseits an fehlenden Lösungen der herstellenden Industrie und andererseits an der geringeren Lebensdauer von TGA-Bauteilen (von maximal 25 Jahre) und an kürzeren Austauschzyklen, vor allem im Retail- und Office-Segment, sowie einem kaum vorhandenen Markt für Wiederverwertung. Ein Lösungsansatz wäre eine lückenlose Erfassung der anfallenden CO2-Emissionen im gesamten Prozess – ein sogenannter CO2-Ausweis anstelle des Energieausweises. Wenn zum Beispiel klar ersichtlich ist, dass der Energie- und Emissionsanteil bei einem Fancoil-Gerät höher ist als jener der gesamten Wand, an der es verbaut wurde, beginnt ein Umdenkprozess. Wichtig hierbei muss in Zukunft auch die Betrachtung des zerstörungsfreien Ausbaus sein. Es hilft uns wenig, wenn durch den Tausch eines TGA-Systems der halbe Rohbau zerstört wird, der noch mehr als 50 Jahre stehen bleiben könnte.

tab: Wie kann es gelingen, die Emissionen gesamthaft zu reduzieren?

Michael Haugeneder: Es braucht ein Zusammenspiel aus Architektur, Tragwerksplanung, TGA und Bauphysik. Diese vier Player müssen sich einig werden, damit bauphysikalische Vorgaben wie Wärmeschutz, Schallschutz und Raumakustik – die ein ordentliches Haus leisten muss – auch erfüllt sind. Daher ist dieses Wechselspiel so wichtig. Und da muss man auch Kompromisse machen. Denn das Übertreiben der Einsparung der roten Emissionen führt derzeit automatisch zu einer Erhöhung der grauen Emissionen. Das heißt, man muss sehr gut darauf schauen, wie weit, mit welchen Materialien und mit welcher Konstruktion man das Energiesparen betreibt.

tab: Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Architekten?

Michael Haugeneder: Es gibt Branchenvertreter, die davon ausgehen, dass es bald keine Architekturbüros mehr geben wird. Sie sind der Meinung, dass Bauherren künftig direkt bei der Industrie anklopfen würden, um ein schönes Haus zu bestellen – eines ohne CO2-Emissionen. Ich hingegen glaube, wir brauchen die Architekten in Zukunft noch viel intensiver. Aber eben nicht erst in den HOAI-Leistungsphasen Null und Eins, sondern davor. Wir brauchen sie als Wissende, die aber noch kein Haus verkaufen. Wir brauchen sie in der Konzepterstellung, wo sie mit dem Fachwissen, wie denn ein Gebäude errichtet wird, samt aller Themen wie Baurecht, Widmung, Energie etc. gemeinsam mit dem Bauherren Ziele definieren. Diese kompetente Begleitung nennen wir bei ATP Target Value Design, eine messbare Bestellgröße.

tab: Welchen Vorteil hätte eine solche Verlagerung der Kompetenzen nach vorne?

Michael Haugeneder: Wenn in dieser frühen Phase nicht darüber nachgedacht wird, welche Energieversorgung später gelten soll, sondern lediglich Rahmenparameter des Grundstücks diskutiert werden – wie das aktuell meist der Fall ist – dann hat das spätestens im Entwurf den Effekt, dass man erkennt, dass man Materialien nicht zur Verfügung hat, man die Preise nicht halten kann, weil es andere Energieformen braucht, die Finanzierung nicht mehr gültig ist, weil man Benchmarks nicht einhält usw. Weil wichtige Themen – lebenszyklusorientierte Themen – in der Vorkonzeptionierung nicht am Tisch waren und damit oftmals ein hohes Risiko im weiteren Projektverlauf einhergeht.

tab: Welchen Beitrag leisten digitale Planung und Building Information Modeling (BIM) hierbei?

Michael Haugeneder: Ein guter Punkt, denn für mich ist das die eigentliche Errungenschaft von BIM. Weniger die Tatsache, dass man daraus schöne Renderings machen kann. Den wesentlichsten Vorteil der digitalen Planung mit BIM sehe ich vielmehr in der Möglichkeit, dass wir einzelnen Schichten schnell Materialien zuweisen können und so den CO2-Fußabdruck zum frühestmöglichen Zeitpunkt für unterschiedliche Varianten durchrechnen können. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, durch gezielte Maßnahmen die CO2-Bilanz eines Gebäudes zu verbessern. Eine solche Berechnung wäre noch vor 20 Jahren auf dem Zeichenblock oder sogar noch vor 10 Jahren in Excel unmöglich gewesen.

tab: ATP Sustain erhielt 2022 für das BIM-CO2-Berechnungstool den Green-BIM Award. Was macht das Tool so innovativ?

Michael Haugeneder: In unserem Tool erfolgt die Optimierung der konstruktiven Varianten nicht durch eine zeitaufwendige Neumodellierung, sondern, wie vorhin geschildert, durch die Befüllung von Revit-Parametern auf Materialebene. So können in frühen Planungsphasen nur mit wenigen „Klicks“ die Auswirkungen unterschiedlicher Ausführungsvarianten auf den ökologischen Fußabdruck eines Gebäudes oder eines Teilbereichs untersucht werden. Schon ohne Berechnung kann man erahnen, dass eine Holzverbundkonstruktion CO2-ärmer ist als jene aus Stahlbeton. Mit dem Tool ist es aber auch möglich, für die verschiedenen Tragkonstruktionen und Aufbauten konkrete Zahlen zu hinterlegen. Das steigert wiederum die Beratungskompetenz in Bezug auf die CO2-Intensität unterschiedlicher Konstruktionen. Zusätzlich ist es möglich, den Ergebnissen Kostennennwerte zuzuweisen. Im Idealfall erkennt man dadurch, dass die ökologisch nachhaltigere Variante teilweise sogar kostengünstiger in Bezug auf die Lebenszykluskosten ist.

tab: Werden wir zukünftig beim Bauen vermehrt Kompromisse eingehen müssen?

Michael Haugeneder: Ich glaube, es ist ein Gebot der Stunde, unsere Bauherren bzgl. Materialkreisläufe und Umweltauswirkungen zu beraten und Aufklärungsarbeit zu leisten. Damit werden sich die Bauherren-Wünsche sicherlich verändern und nicht mehr sämtliche anfangs bestehenden Wünsche zu 100 % erfüllt werden, sondern hier ein Umdenken erfolgen. Wir müssen die Möglichkeiten des modernen Planens und Bauens – Stichwort Austauschbarkeit von Materialien während des Ausschreibungsprozesses – aufzeigen und aus eigenem Antrieb heraus forcieren. Wir müssen auf künftige Entwicklungen im Baurecht und darauf aufbauend auf gesellschaftliche Trends hinweisen und vorrauschauende Entscheidungen treffen. Spätestens 2025 ersetzt ein Gesamt-CO2-Ausweis den bisherigen Energieausweis eines Gebäudes. In diesem Sinne muss den Bauherren bereits jetzt vermittelt werden, dass ein zu sanierender Gebäudebestand aus Sicht des künftig nachzuweisenden CO2-Footprints einen immensen Startvorteil gegenüber einem Neubau bedeutet. Ganz zu schweigen vom Lieferkettenproblem, das damit teilweise wegfällt. Das ergibt in weiterer Folge ein weitaus geringeres Risiko, auch in ökonomischer Hinsicht. Hier müssen wir aufklären und Wissenslücken schließen.

tab: Wie wird in Zusammenhang mit der Frage „Bestand oder Neubau“ die Planung der Zukunft aussehen?

Michael Haugeneder: Es muss und wird ganz klar in Richtung Bestandsentwicklung gehen! Wir sehen das jetzt schon: Die Schwierigkeiten der globalen Lieferketten werden mit dem Ende des Ukraine-Krieges nicht aufhören. Dieses Problem müssen wir durch das Etablieren einer innereuropäischen Kreislaufwirtschaft umgehen, um dadurch wieder eingeständig planen und arbeiten zu können. Wir planen in Europa außerdem sehr viel individuell für das eine Projekt. In der TGA ist es ganz schlimm. Da definieren wir auf das Watt genau, wie eine Maschine sein muss und greifen gar nicht auf die Industrie zurück. Wenn wir künftig vermehrt auf industrielle Lösungen zurückgreifen, gelingt es uns auch, die Gewerke zu entkoppeln und voneinander unabhängig zu machen. Wenn beispielsweise die TGA im Aufputz anstatt in der Decke installiert wird, ist der Zeitpunkt der Installation mehr oder weniger egal.

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