„Barrierefreie“ Elektroinstallation
Entwurf zur neuen VDI/VDE-Richtlinie 6008 Blatt 3Im November 2012 erschien der Entwurf für die neue VDI/VDE Richtlinie 6008 Blatt 3 „Möglichkeiten der Elektrotechnik und Gebäudeautomation“. Sie ist Teil der Richtlinienreihe VDI 6008 zum Thema „Barrierefreie Lebensräume“ und gibt Planern und Ausführenden in der Elektrotechnik eine wichtige Hilfestellung zur Erreichung der Schutzziele nach der DIN 18040.
Die Richtlinienreihe VDI 6008 „Barrierefreie Lebensräume“
Die Anforderungen an barrierefreies Bauen sind bis heute nicht eindeutig formuliert – in den aktuellen Regelwerken zum Thema „Barrierefreie Lebensräume“ finden sich immer noch große Lücken. Mit der Richtlinienreihe VDI 6008 gibt die VDI-Gesellschaft Bauen und Gebäudetechnik (VDI-GBG) einen Überblick, wie sich durch den Einsatz technischer Lösungen Barrieren im Alltag reduzieren lassen. Im Gegensatz zu anderen Regelwerken beschränkt sie sich dabei nicht vorrangig auf Rollstuhlfahrer, sondern berücksichtigt auch andere Personengruppen – von Menschen mit Gehbehinderung, kognitiven Einschränkungen bis hinzu Senioren oder Eltern mit Kindern. Die Richtlinienreihe VDI 6008 soll es möglichst vielen Personengruppen erleichtern – ob mit oder ohne Mobilitätseinschränkungen –, die eigene Wohnung und außerhalb ihres Wohnumfeldes öffentliche Einrichtungen zu nutzen. Dafür werden Anforderungen und Bedürfnisse der unterschiedlichen Nutzergruppen betrachtet und geeignete Produkte und Systeme aufgezeigt. Die Richtlinienreihe VDI 6008 gliedert sich in fünf Blätter. Während sich Blatt 1 den allgemeinen Anforderungen und Planungsgrundlagen für Barrierefreie Lebensräume widmet, fokussieren die übrigen Blätter die Bereiche Sanitärtechnik, Elektrotechnik, Fördertechnik und Zugänge:
Definition „Barrierefreiheit“ nach VDI/VDE 6008
In den Anforderungen zum barrierefreien Bauen werden überwiegend die Anforderungen von Menschen berücksichtigt, die sehr starke Seheinschränkungen vorweisen oder in ihrer Mobilität eingeschränkt sind wie z. B. Rollstuhlfahrer. „Barrierefrei“ wird dabei oft mit „behindertengerecht“ verwechselt. Die VDI-Richtlinienreihe 6008 versucht, die Bedürfnisse möglichst aller Menschen zu berücksichtigen, und definiert Barrierefreiheit wie folgt:
„Barrierefreiheit bedeutet, dass Liegenschaften und deren Technische Gebäudeausrüstung von Menschen in jedem Alter und mit jeder Mobilitätseinschränkung oder Behinderung betreten oder befahren und selbständig sowie weitgehend ohne fremde Hilfe benutzt werden können und damit individuelle Potentiale zum selbstständigen Handeln nicht einschränken.“ Diese Definition orientiert sich an gesetzlichen Forderungen wie dem BGG Behindertengleichstellungsgesetz, erweitert aber den Nutzerkreis erheblich. Barrierefreiheit ist demnach ein Ziel für alle Menschen, egal ob jung oder alt, klein oder groß, gesund oder krank, uneingeschränkt oder behindert, und es ist dann erreicht, wenn barrierefreie Lösungen als solche gar nicht mehr zu erkennen sind.
Ambient Assisted Living (AAL)
Besonders wichtig in einem barrierefreien Lebensraum ist die unauffällige Unterstützung der Nutzer durch die Visualisierung von Zuständen, durch eine automatische Steuerung von Systemen, die nutzerorientierte Überwachung von Abläufen und das automatische Eingreifen im Gefahrenfall. Zu diesem Zweck kommen AAL-Systeme (AAL = Ambient Assisted Living) zum Einsatz. Assistenzsysteme sind grundsätzlich für Menschen aller Altersgruppen hilfreich, sie erhöhen den Wohnkomfort und schützen vor gefährlichen Situationen: Für kleine Kinder, die in der Dunkelheit Angst haben, ist eine Orientierungsbeleuchtung, die sich bei Bewegung automatisch einschaltet, genau so hilfreich wie für ältere Menschen, die in der Nacht aufgrund von kognitiven Einschränkungen Orientierungsschwierigkeiten haben oder sturzgefährdet sind. Die VDI/VDE 6008 Blatt 3 gibt u.a. einen umfassenden Überblick über marktfähige Assistenzsysteme und deren Nutzen.
VDI/VDE 6008 Blatt 3: Anforderungen an die Elektrotechnik
Damit technische System einfach und intuitiv benutzt werden können, müssen sie auf den Anwendungskontext des Nutzers zugeschnitten sein und dessen Alter, seine Erfahrungen und Fähigkeiten sowie seine Denk- und Arbeitsweisen berücksichtigen. Bei älteren Nutzern erhöht ein möglichst frühzeitiger Einsatz der Systeme die notwendige Akzeptanz. Ältere Menschen können sich insbesondere nach dem Auftreten einer Beeinträchtigung nicht mehr so einfach mit neuen Technologien vertraut machen.
Selbstbestimme Lebensführung
Bei Beeinträchtigungen in der Mobilität, in der visuellen oder der auditiven Wahrnehmung können Hilfsmittel wie z.B. spezielle Sensoren, Schalter und Steuerungen eine weitgehend eigenständige Lebensführung unterstützen. Zusätzliche Funkschalter, optische Anzeigen (Leuchten) und akustische Signale (Tür-/Telefonklingel) erleichtern die Bedienung. Immer mehr gewinnt auch die Elektromobilität an Bedeutung. Pedelegs, E-Bikes aber auch Elektrorollstühle kommen verstärkt zum Einsatz. Unter Berücksichtigung der DIN EN 50272 ist ein geeigneter Platz für die Batterieladung vorteilhaft.
Licht
Ausreichend helles Licht ist für viele Tätigkeiten erforderlich und hilft u.a. Stürze zu verhindern. Es wird aber oft als „ungemütlich“ empfunden und kann sogar stören, wenn z. B. die Blendwirkung zu groß ist. Daher empfiehlt sich der Einsatz von Dimmern. Drehdimmer eignen sich besonders, da die Bedienung bekannt und einfach ist. Eine Alternative stellen Touchdimmer dar, mit denen die gewünschte Helligkeitsstufe direkt eingestellt werden kann und die durch LED und ein akustisches Signal eine Rückmeldung über die eingestellte Helligkeitsstufe geben. Durch den gezielten Einsatz von kaltweißem Licht (> 5000 K) wird die Produktion des Schlafhormons Melantonin gesenkt und der Nutzer dadurch aktiviert. Überdies erleichtert es durch bessere Wahrnehmung bestimmte Tätigkeiten wie z. B. das Lesen oder auch Pflegetätigkeiten. Die Verwendung von warmweißem Licht (≤ 3000 K) am Abend kann umgekehrt die Schlafphase vorbereiten. Eine dynamische Steuerung der Farbtemperatur des Lichtes unterstützt den Biorhythmus des Nutzers. Steckdosen mit einem integrierten LED-Orientierungslicht leuchten dezent den Bodenbereich aus. In Bereichen, in denen eine besondere Gefährdung der Nutzer besteht – z.B. in Fluren, Treppenhäusern und Kellerbereichen –, sollte das Licht selbsttätig durch Automatikschalter (bei Bedarf gedimmt) eingeschaltet werden.
Türkommunikation
Eine Türkommunikationsanlage muss vorhanden sein. Neben der Kommunikation dient sie der Zugangskontrolle und bietet dem Nutzer damit zusätzliche Sicherheit. Die Türstation muss die Bereitschaft zum Sprechen optisch anzeigen. Optimal ist der Einsatz einer Videotürsprechanlage. Der Nutzer sieht, wer vor der Tür steht, und die Kommunikation wird durch das Erkennen der Gesten und der Lippenbewegungen erheblich erleichtert. Alle Funktionen wie Bild und Sprache müssen auch auf andere Geräte übertragen werden können, wie z. B. auf Computer oder spezielle Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen. Anlagen, die die vorhandene Zweidraht-Installation nutzen können, vereinfachen die Nachrüstung. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen muss die Aufschaltung auf eine Sicherheitszentrale (virtueller Türsteher) möglich sein. Für die Haustür ist ein elektrischer Türöffner vorzusehen.
Sicherheit
Mindestens ein Rauchwarnmelder muss in jeder Wohnung vorhanden sein. Es muss sichergestellt sein, dass die regelmäßige Funktionsprüfung durchgeführt wird. In Räumen mit erheblichen Störeinflüssen wie Küchendämpfen können Rauchwarnmelder eingesetzt werden, die Gefahren über Wärmesensoren erkennen. Eine Vernetzung der Rauchwarnmelder erhöht die Sicherheit – die lokale Rauchentwicklung wird von allen Rauchwarnmeldern angezeigt.
Länger unbeaufsichtigte Betriebsphasen des Elektro- oder Gasherds sollen durch ein geeignetes akustisches bzw. optisches Signal angezeigt werden, das vom Nutzer quittiert werden muss. Erst wenn der Herd manuell ausgeschaltet ist, darf die Freigabe zur Wiedereinschaltung des Herds erfolgen. Falls die Quittierung nicht erfolgt, soll der Herd automatisch abgeschaltet werden.
Beim Verlassen der Wohnung oder des Hauses sollen alle elektrischen Verbraucher – wie z.B. die Kaffeemaschine oder Radiogeräte – durch einen Schalter neben der Wohnungstür zentral abschaltbar sein. Idealerweise werden bei der Planung dafür separate Stromkreise vorgesehen. Bei Bedarf kann eine automatische Abschaltung durch geeignete Sensoren oder Türkontakte erfolgen. Diese Lösung bietet sich vor allem für Menschen mit kognitiven Einschränkungen an.
Das erhöhte Sicherheitsbedürfnis der Nutzer kann durch den Einsatz von Panikschaltern in der Nähe der Wohnungstür oder am Bett bedient werden. Diese lösen im Gefahrfall eine definierte Aktion aus. Das Einschalten des Lichtes oder das Öffnen von Rollläden kann beispielsweise Einbrecher abschrecken, über die Aktivierung eines Telefongeräts mit Sprachmeldung lassen sich Hilferufe absenden.
Luftqualität
Die Luftqualität sollte durch einen CO2-Raumluftsensor überwacht und die Überschreitung eines Grenzwertes von 1000 ppm CO2 angezeigt werden. Bei Bedarf kann eine automatische Lüftung erfolgen. Pro Raum muss ein Fenster für die Nachrüstung mit elektrischen Antrieben vorbereitet sein.
Rufsysteme
Sanitärräume in Wohnungen sollen mit stationären Tastern und Zugschaltern ausgestattet werden, da die Funkfinger der Hausnotrufgeräte häufig vergessen werden. Insbesondere muss die Notrufauslösung im Bereich der Dusche und der Badewanne möglich sein, da diese Bereiche ein besonderes Gefahrenpotential bergen. Der Notruf kann in der Wohnung durch akustische oder optische Signale angezeigt sowie via Telefon zu einer betreuenden Person weitergeleitet werden. Empfohlen wird der Einsatz von Geräten, die die Anforderungen der VDE 0834 erfüllen.
In behindertengerechten Toiletten öffentlich zugängiger Gebäude muss sichergestellt sein, dass der Notruf auf das Telefon einer anwesenden Person oder auf eine Notrufzentrale weitergeleitet wird, wenn auf das optische Türsignal keine Reaktion erfolgt. Die Notrufeinrichtung muss regelmäßig geprüft und die Prüfung dokumentiert werden.
Notrufeinrichtungen werden auch in Behandlungsräumen in medizinischen Einrichtungen gefordert. Der Patient muss das Personal in einer bedrohlichen Situation durch ein akustisches oder optisches Signal alarmieren können. In den o.g. Anwendungsfällen sind Rufsysteme nach VDE 0834 die sicherste Lösung.
Normen und Richtlinien
Neben der einleitend erwähnten Richtlinienreihe VDI 6008 gibt es weitere Normen, die sich mit dem Thema „Barrierefreiheit“ befassen und die bei der Planung berücksichtigt werden müssen. Eine Norm ist eine technische Spezifikation, die von einem anerkannten Normungsgremium zur wiederholten oder ständigen Anwendung angenommen wurde. Die Einhaltung von Normen ist grundsätzlich nicht zwingend vorgeschrieben (Richtlinie 83/189/EWG) – es sei denn, sie wird als allgemein anerkannte Regel der Technik eingestuft, ist als technische Vorschrift eingeführt oder wird vertraglich vereinbart. Die allgemein anerkannten Regeln der Technik sind nicht immer identisch mit den Normen. Vielmehr gehen sie über die allgemeinen technischen Vorschriften hinaus, wozu auch die Normen gehören. So können VDI-Richtlinien als allgemein anerkannte Regeln der Technik angesehen werden. Diese sind einzuhalten. Eine Abweichung ist nur dann zulässig, wenn die gleichen Schutzziele erreicht werden, die in den allgemeinen anerkannten Regeln der Technik beschrieben sind. Dies ist in der Regel nachzuweisen und sollte dokumentiert werden. „Barrierefreies Bauen“ wird in den Landesbauordnungen nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik gefordert.
Barrierefreies Bauen in LBOs: Schutzziele nach DIN 18040
Nach den Landesbauordnungen müssen in Gebäuden mit mehr als zwei Wohnungen in der Regel die Wohnungen eines Geschosses barrierefrei sein. Ebenso sind öffentlich zugängige bauliche Anlagen und Einrichtungen, die einem allgemeinen Besucherverkehr dienen, so zu errichten, dass diese auch von alten Menschen und Personen mit Kleinkindern zweckentsprechend genutzt und barrierefrei erreicht werden können. Als Grundlage werden die DIN 18040 und die darin beschriebenen Schutzziele herangezogen:
Die DIN 18040 gilt für Neubauten, sollte aber auch bei Umbauten oder Modernisierungen sinngemäß angewendet werden. Ein Teil der Norm bezieht sich auf öffentliche Gebäude sowie dazugehörige Außenanlagen, ein zweiter Teil befasst sich mit dem Privatbauten. Die DIN besagt, dass die Schutzziele auch auf andere Weise als in der Norm festgelegt erfüllt werden können und für spezielle Nutzergruppen zusätzliche oder andere Anforderungen notwendig sein können. Die Schutzziele bieten Orientierung und veranschaulichen beispielhaft, was unter dem Begriff „Barrierefreiheit“ zu verstehen ist. Sie sagen aus, welches Sicherheitsniveau mit Maßnahmen aller Art hinsichtlich einer bestimmten Gefahrenkategorie im Minimum erreicht werden muss. Sie sind so formuliert, dass sie den angestrebten Endzustand darstellen, lassen aber den Weg zur Zielerreichung möglichst offen.
Schutzziele nach DIN 18040
Die wichtigste Forderung bei der Elektroinstallation ist die Beachtung des Zwei-Sinne-Prinzips: Bedienelemente, Anzeigen, Informationen und Funktionen müssen möglichst mit zwei Sinnen wahrgenommen werden können und sollten kontrastreich gestaltet sowie ertastbar sein. Insbesondere die Schutzziele für folgende Bereiche sind zu beachten: