Amok- und Brandschutz
Ein Konflikt, der keiner sein mussDie Schutzziele, die Planer und Betreiber im Brandfall und bei einer Amoklage erreichen müssen, könnten unterschiedlicher nicht sein: Wenn es brennt, sollen die Betroffenen schnellstmöglich aus dem Gebäude flüchten können. Bei einem Amokalarm dagegen gilt es in den meisten Fällen, sich zu verbarrikadieren, bis die Situation geklärt ist. Da liegt es nahe, dass diese Anforderungen in der Praxis häufig als kaum vereinbar wahrgenommen werden. Doch es gibt Lösungswege für effektive Schutzkonzepte.
Zwar sind Amokfälle in Deutschland seltene Ereignisse, doch wenn sie stattfinden, ist das mediale Aufsehen groß und die Zahl der verletzten oder gar getöteten Personen oft bestürzend hoch. Auch Schulen bleiben vor derartigen Ereignissen nicht verschont, sodass eine Personengruppe zur Zielscheibe wird, die unseres besonderen Schutzes bedarf: Kinder und Jugendliche. Vielleicht haben wir gerade deshalb noch heute Bilder und Berichte wie die aus Erfurt oder Winnenden vor Augen, auch wenn sie Jahre zurückliegen. Das Thema berührt. Kein Wunder also, dass auch der Schutz vor solchen Ereignissen bisweilen emotional diskutiert wird.
Verhalten im Notfall
Die Studienergebnisse zum Verhalten bei Amok sind so unterschiedlich, da die einzelnen Vorfälle individuell sind. „Dagegen liegen zum Verhalten bei Brandalarmierungen eine Vielzahl von belastbaren Forschungserkenntnissen vor, die in Teilen auch auf die Situation eines Amoklaufs übertragbar sind“, sagt Laura Künzer. Die Diplom-Psychologin ist Teil des Team HF aus Ludwigsburg, das aus der Perspektive des sogenannten Human Factor Ansatzes u. a. zum Verhalten von Menschen bei Räumungen und Evakuierungen forscht und berät. „In einem Notfall wollen wir Menschen uns instinktiv aus der Gefahrensituation befreien und in Sicherheit bringen“, beschreibt Künzer eine Verhaltensweise, die im Brandfall Rettung bedeutet, bei einem Amoklauf dagegen Risiko. Sollen sich die anwesenden Personen einschließen, steht diese Anweisung also zunächst im Widerspruch zu ihrem evolutionär tief verankerten, inneren Programm. Dazu kommt, dass Menschen in einer Gefahrensituation genau verstehen wollen, was wirklich los ist. Viele Planende haben Künzers Erfahrung nach allerdings Bedenken, durch Alarmierungen Paniksituationen auszulösen. Entsprechend zurückhaltend werde mancherorts im Ernstfall vor der Gefahr gewarnt. Ein Fehler, denn Studien belegen, dass Panik in der Regel gar nicht auftritt und das Problem eher am anderen Ende der Skala liegt: „Betroffene reagieren häufig zu langsam oder überhaupt nicht, weil sie den Ernst der Lage nicht verstehen“, warnt Künzer. Auch deshalb möchte die Wissenschaftlerin dafür sensibilisieren, planungsseitig mehr im Bewusstsein zu haben, wie Menschen bei Gefahren reagieren und was sie benötigen, um adäquate Handlungen abzuleiten.
Zwei Schutzziele – eine Vorgehensweise
„Menschen, die unter Stress stehen, sind schlechter in der Lage, kreativ nach Lösungen zu suchen. Sie greifen auf vorhandenes Wissen und übliches Verhalten zurück. Sie brauchen deshalb verständliche Informationen und klare Handlungsanleitungen. Jedes einzelne Wort muss dabei bedacht werden. Grundsätzlich gilt aber: Je expliziter, dringlicher und deutlicher eine Anweisung ist, desto besser“, fasst die Psychologin zusammen. Welche Informationen und Durchsagen im Einzelfall zielführend sind, hängt allerdings von vielen Faktoren ab. Umso wichtiger sei es, von Anfang an alle Beteiligten am Planungstisch zusammenzubringen und z. B. die Alarmierungskonzepte für ein Amok- oder Brandereignis nicht isoliert zu betrachten, sondern von vorneherein gemeinsam zu denken. „Wir brauchen praxisnahe Konzepte. Deshalb ist es wichtig, die Perspektive aller handlungsleitenden Personen einfließen zu lassen. Entscheidend ist, dass wir die zu schützende Zielgruppe genau kennen und die Alarmierungskonzepte nach ihren Bedürfnissen, Fähigkeiten und ggf. Einschränkungen ausrichten müssen“, betont Künzer. Eine Alarmierung müsse daher immer im Kontext der Infrastruktur, der betroffenen Menschen, der Art der Gefahr selbst und den anderweitig involvierten Personen gesehen werden.
Plant man bspw. ein ganzheitliches Sicherungskonzept für eine Schule, kann es demnach Sinn machen, auch die Schülervertretung einzubeziehen. Ebenfalls an den Planungstisch gehören Einsatzkräfte, Behördenvertreter, die für den Ernstfall geschulten Mitarbeiter und Personen mit besonderen Anforderungen, die bei einem Notfall ebenfalls betroffen sein könnten. Wird die Einrichtung bspw. von Kindern und Jugendlichen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen besucht, muss das bei der Ausgestaltung berücksichtigt werden.
Normativen Rahmen ausschöpfen
Im Vergleich zum Brandschutz ist der Schutz vor anderen Gefahrensituationen bauordnungsrechtlich weniger reguliert. Das führt in der Praxis dazu, dass es unterschiedliche Vorstellungen und Interpretation über die rechtlichen Zusammenhänge gibt und das Thema auch in Fachkreisen immer wieder kontrovers diskutiert wird. Nach Künzers Erfahrungen ist es hilfreich, sich bei der Betrachtung von Amoklagen an die Brandschutzkonzepte anzulehnen, wenngleich diese nicht eins zu eins adaptierbar sind. Das gilt z. B. für Alarmpläne. „Die beiden Schutzziele können nicht nur, sie müssen sogar zusammen gedacht werden, damit sie sich nicht gegenseitig behindern“, betont die Human Factors Psychologin. In Bezug auf Schulen lässt sich das sogar aus dem Bauordnungsrecht ableiten: „Die Erläuterungen der Bauministerkonferenz zur Schulbaurichtlinie machen deutlich, dass in der Brandschutzordnung nicht nur Regelungen für den Brandfall, sondern auch für andere Gefahren festzulegen sind. Das betrifft insbesondere die Alarmierung und Räumung der Schule“, bekräftigt Bastian Nagel, Spezialist für Bauordnungsrecht, Normen und Richtlinien bei Hekatron Brandschutz.
Schulen gelten genauso wie Verkaufsstätten, Versammlungsstätten oder Hochhäuser als Sonderbauten. An diese werden bauordnungsrechtlich besondere Anforderungen gestellt. Die Schulbaurichtlinie sieht eine Alarmierungsanlage vor, deren Alarmsignal in jedem Raum der Schule gehört werden kann. Die Anlage muss mindestens an einer während der Betriebszeit der Schule ständig besetzten oder jederzeit zugänglichen Stelle ausgelöst werden können. Da die Musterschulbaurichtlinie bereits aus dem Jahr 2009 stammt und sich die Art und Nutzung von Schulen in den letzten Jahren stark verändert hat, werden zunehmend Brandschutzkonzepte umgesetzt, die von den Vorgaben der Schulbaurichtlinie abweichen müssen, um Brandschutzmaßnahmen in Einklang mit einer modernen Nutzung der Objekte zu bringen. Um trotz dieser Abweichungen die Schutzziele zu erfüllen, kommen sogenannte Kompensationsmaßnahme zum Tragen, die dann für das jeweilige Gebäude in der Baugenehmigung verankert und damit verbindlich umzusetzen sind. Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz einer selbsttätigen Brandmeldeanlage (BMA) mit Alarmierungsfunktion. Üblicherweise werden diese nach den Normen DIN 14675-1, DIN VDE 0833-1 sowie DIN VDE 0833-2 geplant und errichtet und erfüllen damit die bauordnungsrechtlichen Bestimmungen. Auch auf Sprachalarmanlagen nach DIN VDE 0833-4 wird in Schulen häufig zurückgegriffen, da diese nicht nur ein akustisches Warnsignal erzeugen, sondern die Möglichkeit bieten, gezielte Informationen zu geben und Anweisungen zu erteilen und das nicht nur im Gefahrenfall.
Alarmierungskonzept implementieren
Bevor eine Brandmelde- oder eine Sprachalarmanlage gebaut werden darf, verlangen die genannten Normen die Erstellung eines Brandmelde- und Alarmierungskonzeptes. Für das Brandmelde- und Alarmierungskonzept sind jeweils die Betreiber bzw. Auftraggeber der Anlage verantwortlich. Sie definieren gemeinsam mit den zuständigen Stellen und weiteren Beteiligten die erforderlichen Maßnahmen. Dazu gehört auch die Festlegung, wie gefährdete Personen gewarnt werden und in welchen Bereichen eine akustische und möglicherweise auch optische Alarmierung erforderlich ist. Das alles muss in enger Abstimmung mit dem organisatorischen Brandschutz erfolgen.
Da das Brandmelde- und Alarmierungskonzept unter anderem auf der Baugenehmigung aufbaut und die dort festgelegten Vorgaben nicht verwässern darf, ist es sehr wichtig, das Alarmierungskonzept bereits im genehmigten Brandschutzkonzept eindeutig und unmissverständlich zu beschreiben. Dabei sollte auch ein Szenario betrachtet werden, das insbesondere in Schulen immer wieder hitzig diskutiert wird: Eine mutwillige Auslösung der BMA, um die anwesenden Personen auf die Flure oder zu den Ausgängen zu locken. Diesem Szenario kann durch unterschiedliche Möglichkeiten vorgebeugt werden. „Ein Widerspruch zwischen Amok- und Brandalarmierung entsteht jedoch häufig dann, wenn beide Anlagen losgelöst voneinander geplant werden, die Projektbeteiligten nicht von Anfang an miteinander sprechen und es an der konzeptionellen Grundlage für die Planung fehlt“, berichtet Bastian Nagel.
Missbrauch vorbeugen
Um den Folgen eines Missbrauchs der BMA vorzubeugen, kann die Anlage so konzeptioniert und errichtet werden, dass sie anstelle eines unmittelbaren Alarms im gesamten Gebäude einen Alarmierungsprozess auslöst, der auf das Zusammenwirken von Anlagentechnik und organisatorischem Brandschutz setzt. „Viele Planer gehen nach wie vor davon aus, dass Brandmeldeanlagen sofort einen lauten Alarm auslösen müssten. Doch gemäß der relevanten Anwendungsnormen ist das nicht zwingend nötig“, verdeutlicht Nagel. Denkbar ist daher, dass die BMA neben der sofortigen Alarmierung der Feuerwehr eine interne Warnung auslöst, die nicht im gesamten Gebäude, sondern nur in einzelnen definierten Räumen hörbar ist, z. B. dem Sekretariat oder dem Lehrerzimmer einer Schule. Die Schulleitung oder eine andere eingewiesene Person kann dann z. B. über eine Gegensprechanlage prüfen, ob es in der Einrichtung tatsächlich brennt oder es sich möglicherweise um einen Falschalarm handelt. Erst wenn der Brandalarm bestätigt ist oder eine vordefinierte Zeitspanne abgelaufen ist, wird die Alarmierung der anwesenden Personen ausgelöst. Im Falle mutwilliger oder aggressiver Handlungen könnten über die Gegensprechanlage Meldungen aus den betroffenen Räumen eingehen, die über die Situation vor Ort informieren. So können die vordefinierten und erforderlichen Maßnahmen getroffen werden. Im Ernstfall übernimmt die Polizei nun die Einsatzleitung.
Lösungen immer individuell
Das Beispiel zeigt, wie sich der scheinbare Zielkonflikt auflöst, wenn Amok- und Brandszenarien zusammen gedacht werden. Wenn bei der Planung zudem das Zusammenspiel von Menschen, Technik und Organisation berücksichtigt wird, entstehen effektive Schutzkonzepte mit hohem Sicherheitsstandard. „Klar muss allerdings sein, dass solche Konzepte lebende Dokumente sind, die regelmäßig überprüft und an geänderte Gegebenheiten angepasst werden müssen“, betont Nagel. Und: Auch wenn die Normen die beschriebenen Möglichkeiten offenlassen, ist es wichtig, die Lösungsansätze auch im Baugenehmigungsbescheid für das jeweilige Gebäude zu verankern.
Die angemessenen Konzepte und Reaktionen und können übrigens in einem Kino, einer Universität oder einem Einkaufszentrum ganz anders aussehen. Dort sind in der Regel viele Personen im gesamten Gebäude und zum Teil auch in einzelnen Räumen verteilt. Insbesondere in Bereichen, in denen gerade keine Gefahr vorhanden ist, kann die Nutzung der vorhandenen Flucht- und Rettungswege möglicherweise eher die Rettung sein als sich zu verbarrikadieren. Auch innerhalb eines Gebäudes müssen unterschiedliche Fallkonstellationen berücksichtigt werden. So sind etwa öffentlich zugängliche Areale bezogen auf die Vortäuschung eines Brandalarms anders zu bewerten als abgeschlossene Technikbereiche.