Das aktuelle Baurechtsurteil
„Große Kündigungsvergütung“ ist auch bei einvernehmlicher Vertragsaufhebung möglichStreiten sich Auftraggeber und Auftragnehmer, kann man sich einvernehmlich auf eine Vertragsaufhebung einigen. Kann der Auftragnehmer in einem solchen Fall die „große Kündigungsvergütung“ verlangen, also das gesamte vereinbarte Honorar abzüglich ersparter Aufwendungen und dem Honorar aus Ersatzaufträgen? Nach dem OLG Stuttgart schließt sich das bei einem VOB/B-Vertrag nicht aus (OLG Stuttgart, Urteil vom 12.12.2023, Az. 10 U 22/23).
Sachverhalt
Dr. Michael Kappelhoff, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht bei Schlünder Rechtsanwälte.
Bild: Kappelhoff
Ein Dachdeckerbetrieb soll für die beklagte Stadt Dachdeckerarbeiten ausführen. Hierzu wird ein VOB-Vertrag mit Ausführungsfristen geschlossen. Es kommt zu Verzögerungen und Unterbrechungen. Die beklagte Stadt fordert den Dachdeckerbetrieb unter Androhung einer Kündigung auf, die Arbeiten wieder aufzunehmen. Der Dachdeckerbetrieb reagiert darauf mit einer Behinderungsanzeige, weil die Stadt über Ausführungsdetails noch nicht entschieden habe. Kurze Zeit später fordert die Auftraggeberseite den Dachdeckerbetrieb im Anschluss an ein gemeinsames Gespräch dazu auf, „nach derzeitigem Leistungsstand abzurechnen“. Der Dachdeckerbetrieb erstellt eine erste Schlussrechnung über die erbrachten Leistungen. Anschließend erstellt das Unternehmen eine weitere Schlussrechnung, die auch eine Vergütung für nicht erbrachte Leistungen bei freier Kündigung beinhaltet. Auf Nachfrage bestätigt die beklagte Stadt schriftlich, dass dem Dachdeckerbetrieb ein Anspruch wie bei einer freien Kündigung zustehe (§ 8 Abs. 1 VOB/B). Das Landgericht weist die Klage vollumfänglich ab.
Entscheidung des OLG Stuttgart
Das Oberlandesgericht Stuttgart verweist in der Berufung darauf, dass hier die VOB-Bestimmungen überprüft werden können, weil die „zusätzlichen technischen Vertragsbedingungen (ZTV)“ von der VOB/B abweichen. Für eine Kontrolle der einzelnen VOB-Bestimmungen reiche es aus, wenn die Parteien irgendeine vertragliche Abweichung von der VOB/B vereinbart hätten. Die auftraggebende Stadt könne sich daher nicht darauf berufen, dass das klagende Unternehmen die Schlusszahlung auf die erste Schlussrechnung vorbehaltlos hingenommen habe (§ 16 Abs. 3 VOB/B). Zudem hätten sich die Parteien hier einvernehmlich darauf geeinigt, dass die „große Kündigungsvergütung“ geltend gemacht werden könne. Die beklagte Stadt habe mit ihrer Aufforderung, nach derzeitigem Leistungsstand abzurechnen, die Kündigung erklärt. Sie habe zudem bestätigt, dass die Abrechnung entsprechend einer freien Kündigung (§ 8 Abs. 1 VOB/B) erfolgen könne. Wäre dies nicht vertraglich vereinbart worden, hätte man das Ergebnis auch über eine Auslegung anhand der Umstände ermitteln können: Der klagende Dachdeckerbetrieb sei hier dem Wunsch des Auftraggebers auf Vertragsaufhebung nachgekommen, obwohl die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung nicht vorgelegen haben und die Situation daher einer freien Kündigung des Auftraggebers entsprach.
Praxishinweis
Das Oberlandesgericht spricht zwei wichtige Aspekte an: Das Gericht weist nicht nur auf den Umstand hin, dass die VOB/B rechtlich sehr „zerbrechlich“ ist – sie enthält eine Vielzahl von Bestimmungen, die schon bei irgendeiner Abweichung von der VOB/B (hier durch die vereinbarten ZTV) rechtlich überprüft werden können. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts zeigt auch die Gefahr für den Auftraggeber, bei einer einvernehmlichen Vertragsaufhebung in der Kostenfalle zu landen: Wenn die Aufhebungsvereinbarung keine Regelung zu dem abzurechnenden Honorar beinhaltet und dann möglicherweise auch gar kein Kündigungsgrund vorlag, liegt eine Situation vor, die der freien Kündigung des Auftraggebers entspricht und zur „großen Kündigungsvergütung“ des Auftragnehmers führt.
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