Kommentar

Das Ende eines Traums

Europa sollte eine Oase der Freiheit, der Demokratie, der Sicherheit und des Wohlstandes werden. Eine Oase deshalb, weil der Welt außerhalb Europas gezeigt werden sollte, dass die genannten Ziele eines friedlichen Miteinanders in Freiheit und Solidarität und ohne Angst möglich sein können. Dieser europäische Geist sollte dazu führen, durch eine ständig größer werdende Europäische Union auch anderen Völkern die europäische Vision eines besseren Lebens zu vermitteln und sie einzuladen, ebenfalls mitzumachen und dazuzugehören.

Dieser Traum, diese Illusion hat 2015 ihr Ende gefunden!

Eine Gemeinschaft freier, souveräner und demokratischer Staaten kann nämlich nur dann bestehen, wenn alle Mitglieder sich gegenseitig achten und einander in Notsituationen helfen. Diese für jede Gemeinschaft unabdingbare Voraussetzung gibt es innerhalb der Staaten der Europäischen Union nicht mehr – vielleicht hat es sie ja auch nie gegeben.

Eine Europäische Union, deren Mitglieder es sich zur Aufgabe machen, den maximalen politischen und wirtschaftlichen Vorteil aus selbiger zu ziehen, ohne bereit zu sein, gegenüber der Gemeinschaft und anderen Mitgliedern Zugeständnisse zu machen und Hilfeleistungen zu erbringen, wird scheitern. Dies hat das Jahr 2015 gezeigt.

Eine  Union, die darauf basiert, dass einige wenige – vor allem Deutschland – die Gemeinschaft und andere Mitglieder dauerhaft wirtschaftlich und finanziell alimentieren, überlebt nicht. Keine Beziehung hat Bestand, in welcher der eine nur gibt und der andere nur nimmt. Spätestens in dem Zeitpunkt, in dem der Geber nicht mehr in der Lage oder vielleicht auch nicht mehr bereit ist zu geben, und der Nehmer nicht erkennt, dass eine Partnerschaft keine Einbahnstraße sein kann, wird scheitern. Manch ein Verfahren vor dem Familiengericht hat hierin seinen Ursprung!

Am Ende der Europäischen Union in ihrer bisherigen Form kann sich vielleicht der Nukleus einer neuen Gemeinschaft bilden aus einem Kreis von Nationen mit Kulturen und Lebensverhältnissen, die einander näher sind, als dies bei den 28 Nationen der bisherigen EU der Fall ist.

Wichtig hierbei ist auch, dass die handelnden Persönlichkeiten in einem neuen Europa Weitsicht und Souveränität aufbringen.

Die Souveränität eines Politikers liegt auch und vor allem darin, Fehler zu erkennen, einzugestehen und entsprechend neuer Erkenntnisse zu handeln. Nichts ist schlimmer als ein Politiker, der auf einem einmal geäußerten Standpunkt beharrt und um seiner eigenen Glaubwürdigkeit willen die Augen vor der Realität verschließt. Ein solcher Politiker verliert seine Glaubwürdigkeit endgültig und unwiederbringlich.

Ein Staatenlenker ist seinem Land verpflichtet und darf eigene Wünsche und Erwartungen nicht zur Richtschnur seines politischen Handelns werden lassen.

Die Demokratie gibt jedem Politiker die Regierungsmacht nur für einen bestimmten Zeitraum.

Ist ein Politiker nicht mehr überzeugt davon, dass der von ihm eingeschlagene Weg richtig ist und erfolgreich sein wird, gebietet es ihm seine Weltanschauung oder sein Gewissen, das Wohl des Landes unter Einbeziehung der tatsächlichen Gegebenheiten in den Vordergrund zu stellen.

So gibt es für einen verantwortungsvollen Politiker nur eine moralisch akzeptable Handlungsoption: Er muss das Zepter abgeben in diejenigen Hände, die das Wohl des Landes, die unausweichlichen Notwendigkeiten und die eigene Überzeugung in Einklang bringen können.

Weltgeschehnisse entwickeln sich mit einer derartigen Dynamik und Geschwindigkeit, dass für diese Entscheidungsfindung und deren Diskussion nur ein kurzer Zeitraum zur Verfügung steht – ansonsten sind nicht wiedergutzumachende Entwicklungen zu befürchten, welche die oben genannten hohen europäischen Ziele endgültig der Unrealisierbarkeit anheimstellen werden.

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