Populäre Rechtsirrtümer am Bau – Teil 6

Optischer Mangel – kleiner Minderwert

„Optischer Mangel – kleiner Minderwert.“ Das war eine Standardansage, die ich zu Beginn meiner Anwaltstätigkeit von einem Mandanten – einem Gewerbehallenbauer – regelmäßig gegenüber Mängelrügen von Bestellern zu hören bekam. Auch heute begegnet einem der Satz so oder ähnlich öfter. Wahrheit oder Irrtum?

Ausgangslage:

Ein Mangel ist – machen wir es heute kurz – die Abweichung der Ist-Beschaffenheit von der vorauszusetzenden Soll-Beschaffenheit. Tritt ein solcher Mangel auf, hat der Besteller zunächst ein Recht auf Nacherfüllung. Der Unternehmer hat die Wahl, wie er den Mangel beseitigt. Am Bau wird er regelmäßig die Nachbesserung wählen. Nach § 635 Abs. 3 BGB kann der Unternehmer die Nacherfül­lung verweigern, wenn sie un­mög­lich oder nur mit unverhält­nismäßigen Kosten möglich ist. Damit endet auch schon der gesetzliche Befund.

Kein Anspruch des Bestellers auf Minderwert

Die erste Aussage, auch wenn er meistens nicht im Zentrum des Interesses steht, ist daher: Der Kunde kann nicht wählen, ob er einen Minderwert haben möchte, auch nicht bei nur optischen Mängeln. Will der Unternehmer nachbessern, so darf er das.

Was sind unverhältnis­mäßige Kosten?

Meistens ist es anders. Der Auftragnehmer wäre froh, wenn er manche Mängelpunkte durch einen Abzug vom Werklohn abgelten könnte. Ein Anspruch auf dieses Vorgehen besteht nur bei unverhältnismäßigen Kosten.

An diesem Rechtsbegriff arbeiten sich Juristen und Ingenieure ab, mit durchaus unterschiedlichen Resultaten.

Einig ist man sich, dass es jedenfalls nicht auf die Kosten der Mangelbeseitigung als solche ankommt, auch nicht auf diese Kosten im Verhältnis zum Auf­trags­wert oder zum Wert des mangel­haften Bauteils. Wesentlich ist das Verhältnis zwischen dem Vorteil, den der Kunde durch die Nachbesserung erreichen kann und den andererseits bei der Nachbesserung entstehenden Kosten. Diese beiden Dinge sollen in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen.

Im Einzelfall kann das schwierig zu entscheiden sein. Eine Faust­regel ist jedenfalls, dass bei einer spürbaren Funktionsbe­ein­träch­tigung regelmäßig eine Nachbesserung verlangt werden kann – auch wenn sie teuer ist. Ein klassisches Beispiel ist das nachträgliche „Zersägen“ von Doppelhaushälften, wenn es in der Trenn­fuge Schallbrücken gibt. Wenn deutliche Vorteile beim Schall­schutz erzielt werden, wird der Erwerber auch bei hohen Kosten das Recht haben, eine Nachbesserung zu verlangen.

Man muss andererseits eine fühlbare Beeinträchtigung voraussetzen. Ob eine teure Nachbesserung noch erzwungen werden kann, wenn die Heizungsanlage statt einer vereinbarten Raumtemperatur von 22,0 °C nur eine solche von 21,8 °C erreichen kann, ist zu bezweifeln.

Der typische optische Mangel beeinträchtigt die Funktion ge­rade nicht. Auch das zerbeulte Auto fährt, auch die krumme Wand steht, auch die verkratzte Heizung wärmt. Hier kommt es auf den Einzelfall an. Zum einen natürlich auf die Kosten der Nach­­besserung, zum anderen darauf, welche Stellenwert denn die Optik gerade des betroffenen Bauteils einnimmt. Zum Bei­spiel: Der Schiefstand einer Betonstütze in einer Tiefgarage oder bestimmte optische Mängel in einer Industriehalle sind eher zu tolerieren als optische Mängel dort, wo Kunden bewusst in „etwas Schönes“ investiert haben, so beispielsweise in ein neues Bade­zimmer, obwohl durchaus Dusche, Toilette und Warmwasser funk­tions­fähig schon vorher vorhanden waren.

Das gilt übrigens auch, wenn die Optik nicht objektiv „verschandelt“ ist, sondern nur eine andere – vielleicht für Dritte ebenso schöne – Fliesensorte eingebaut ist oder ein anderes Waschbecken als bestellt.

Die Ingenieure nähern sich dem Thema gerne durch Tabellen und Methoden. Bekannt sind beispielsweise die Zielbaummethode zur Ermittlung von Wertminderungen. Oder auch die Matrix zur Mängelbewertung von Oswald. Diese Methoden sind auch für Juristen interessant, weil sie einem die Möglichkeit geben, sich mit Argumenten an die Fragestellung anzunähern, statt nur „nach Gefühl“ vorzugehen. Man darf solche Tabellen aber auch nicht einfach „anwenden“, denn sie haben keine eigene Stütze im Gesetz, sondern versuchen auch nur eine Abbildung dessen, was unverhältnismäßige Kosten sind.

Wie ermittelt sich der Minderwert, wenn die Nachbesserung verweigert werden kann?

Hier kommt es auf den Einzelfall an, der ja eher auf den Bagatellcharakter zulaufen kann oder eben auch deutlichere Mängel abdecken muss.

Jedenfalls sollte der Minderwert immer unterhalb der Nachbesserungskosten liegen, denn sonst kann man ja – außer bei wirklicher Unmöglichkeit – lieber die Nachbesserung wählen. Erreicht nach einigem Nachdenken der anzusetzende Minderwert beträchtliche Größenordnungen von vielleicht 30 bis 50 % der Nachbesserungskosten, sollte man noch einmal überprüfen, ob nicht doch die Nachbesserung geschuldet ist. Denn auch der ermittelte Minderwert zeigt dann ja eine deutliche Beeinträchtigung auf.

Fazit

Es gilt also nur eine Regel: Ist die Mangelbeseitigung für den Unternehmer unzumutbar und beruft er sich darauf, führt dies zu einem Minderwert statt zur Nachbesserung. Der optische Mangel ist aber nicht etwa automatisch nur mit einem Minderwert zu belegen. Im gewerblich-industriellen Bereich ist das eher der Fall, wenn dort die technische Funktion sehr stark im Vordergrund steht. Die Optik kann aber auch eine sehr wichtig Funktion sein, insbesondere dann, wenn eigens dafür viel Geld angelegt wird. Dann kann auch bei optischen Mängeln ohne weiteres Nachbesserung verlangt werden.

Mein Hallenbauer gab übri­gens seinen neuen Wagen wegen kleinerer Lackfehler ganz selbstverständlich zurück und erhielt ein anderes Fahrzeug. Von wegen „optischer Mangel – kleiner Minderwert“. Es ist eben alles eine Frage der Perspektive…

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